Mal ein paar grundsätzliche Gedanken aus der Perspektive des Schiedsrichters zum Thema Spielerproteste. Ich unterscheide hier der Einfachheit halber zwei Varianten davon: zum einen den Protest, den Spieler erheben, wenn sie glauben, eine regelwidrige Handlung bemerkt zu haben (oder ihr Opfer geworden zu sein). Zum anderen den Protest gegen eine getroffene Entscheidung des Schiedsrichters.
Variante 1 – um die es hier in erster Linie geht – soll den Unparteiischen aufmerksam machen: Hier, guck mal, Schiri, Foulspiel oder Handspiel. Oder Ball im Aus, Einwurf für uns, Eckstoß oder Abstoß. Die Spieler sind damit grundsätzlich schneller als der Referee mit seiner Entscheidung, weil er sie ja erst mal treffen muss, im Kopf und indem er gegebenenfalls die Pfeife zum Mund führt und hineinbläst. Das heißt auch: Er gleicht in diesem Moment gezwungenermaßen die Reaktion der Spieler mit seiner eigenen Wahrnehmung ab – und zwar unter Druck, denn er muss ja in Sekundenbruchteilen beurteilen, ob an dem Protest etwas dran ist oder nicht. Und er weiß, dass seiner Entscheidung womöglich weitere – für ihn potenziell unangenehme – Reaktionen folgen werden: Pfeift er nicht, gehen die Reklamationen der betreffenden Mannschaft wahrscheinlich weiter, pfeift er, reklamiert vielleicht das andere Team. Handelt es sich um eine Situation im Graubereich (also um eine, bei der es einen Ermessensspielraum gibt), wird der Schiedsrichter außerdem berücksichtigen, wie sich eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung auf die Partie und auf seine Spielleitung auswirkt.
Diese Variante 1 erfordert vom Schiedsrichter immer eine unmittelbare Schwarz-Weiß-Entscheidung: Spielunterbrechung oder Weiterspielen, dazwischen gibt es nichts, auch wenn es sich um eine Szene im Grenzbereich handelt. Die Entscheidungsfindung wird dabei umso schwieriger und dringlicher, je heftiger der Protest ist. Dazu muss noch gesagt werden, dass es eine bestimmte Heftigkeit des Protestes gibt, die sich nicht ohne Weiteres zwecks massiver Beeinflussung des Referees »erlernen« lässt, sondern spontan, situativ und »ehrlich« auftritt. Als Beispiel seien hier die Reklamationen der Bayernspieler im DFB-Pokal-Halbfinale gegen den BVB nach Marcel Schmelzers Handspiel in der 56. Minute genannt. Schiedsrichter Peter Gagelmann wird in diesem Moment klar gewesen sein, dass da etwas war, etwas gewesen sein muss. Nur hat er es eben nicht gesehen (und sein Assistent auch nicht), deshalb konnte er es auch nicht pfeifen.
Bei Medhi Benatias Handspiel in der 2. Minute – bei dem sich darüber streiten lässt, inwieweit es das Kriterium der Absicht erfüllte und damit strafbar war – lag der Fall anders, und hier kommen wir in den Bereich der Schiedsrichtertaktik. Niemand hat reklamiert, nicht mal die Dortmunder, es erhob sich kein Geschrei im Stadion, der ganze Ablauf dieser Szene deutete nicht im Geringsten auf eine möglicherweise regelwidrige Handlung hin. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn das so ist und man als Schiedsrichter eigentlich etwas anderes gesehen hat, zweifelt man an seiner Wahrnehmung (und die ist nun mal unmittelbar maßgebend): War es vielleicht gar kein Handspiel? Es reagiert schließlich überhaupt niemand! Und wenn man nicht zweifelt, fragt man sich: Mache ich da jetzt wirklich ein Fass auf? Jeder Unparteiische hat schließlich immer auch das Ziel, ein Spiel möglichst reibungslos über die Bühne zu bringen. Und, ganz wichtig, Akzeptanz für sein Vorgehen zu haben. Wenn also alle, wirklich alle in Grenz- und Zweifelsfällen mit der Entscheidung »Weiterspielen« gut leben können, warum dann anders handeln?
Ein anderes, harmloseres Beispiel: Der Ball geht nach einem Zweikampf ins Seitenaus. Der Schiedsrichter-Assistent glaubt, gesehen zu haben, dass ein roter Spieler zuletzt am Ball war, es also einen Einwurf für Blau geben müsste. Trotzdem bewegen sich alle, wirklich alle Spieler in Richtung blaues Tor, weil sie mit einem Einwurf für Rot rechnen. Und da kommt auch schon der rote Spieler, der den Einwurf ausführen will. Wenn der Assistent jetzt die Fahne zur Verwunderung aller in die andere Richtung zieht, kommt sofort Unruhe auf, ein blauer Spieler läuft zur Seitenlinie und beginnt mit dem roten Spieler ein Gerangel um den Ball, es drohen Unsportlichkeiten. Er mag mit dem Fahnenzeichen vielleicht sogar richtig liegen, trotzdem wäre es besser gewesen, einen Einwurf für Rot zu signalisieren. Streng genommen mag das zwar falsch sein, aber warum Proteste, minutenlange Hektik und vielleicht sogar eine Verschärfung des Spielcharakters riskieren, wenn sich ohnehin schon alle einig waren und dem Gespann die Entscheidung gewissermaßen abgenommen haben?
Was wäre nun gewesen, wenn Spieler des BVB in der 2. Minute reklamiert hätten? Dann hätten sie Peter Gagelmann gezwungen, eine von zwei möglichen Entscheidung zu treffen (Strafstoß oder Weiterspielen), die er so nicht mehr treffen musste, weil sie ihm de facto abgenommen wurde. Wenn aber kein Mensch im Stadion ein strafbares Handspiel gesehen hat, macht man sich das Leben als Referee nicht ohne Not selbst schwer, indem man auf den Punkt zeigt. Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich muss man Entscheidungen auch mal gegen Widerstände durchsetzen, wenn man von ihnen überzeugt ist. Aber das sind normalerweise Entscheidungen, über die sich nicht das ganze Stadion wundert, sondern nur die eine Hälfte.
Proteste von Spielern können niemals ein Beweis für etwas sein, ein Indiz dagegen schon. Nicht mehr und nicht weniger – die Entscheidung liegt selbstredend beim Referee. Und damit noch kurz zur eingangs erwähnten Variante 2, also dem Protest gegen eine getroffene Entscheidung. Hier bleibt dem Schiedsrichter grundsätzlich nur, diese Entscheidung durchzusetzen (von den ganz, ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, in denen die Reklamationen so ungewöhnlich heftig sind, dass der Unparteiische sich veranlasst sieht, den betreffenden Spieler zu fragen, wie Uwe Kemmling im April 1998 nach dem Handspiel des Schalkers Oliver Held im Spiel gegen Köln – das Ergebnis war allerdings katastrophal). Häufen sich die Proteste – was immer auch bedeutet, dass die Akzeptanz des Schiedsrichters gelitten hat –, wird er überlegen, wie er die Spieler wieder ins Boot holen kann.
Die schlechteste Idee ist es dabei, offensichtlich falsche Konzenssionsentscheidungen zu treffen. Ein gangbarer Weg besteht dagegen darin, in Grenzsituationen mit Spielraum den einen oder anderen Pfiff für die vermeintlich benachteiligte Mannschaft zu setzen, wenn (!) es möglich und sinnvoll ist. Das betrifft allerdings vor allem Entscheidungen ohne potenziell spielentscheidenden Charakter, also vor allem Zweikämpfe im Niemandsland. Aber dazu werden wir im Podcast von Collinas Erben mal ein bisschen mehr erzählen.